Misogynie, die

Wikipedia sagt, Misogynie sei ein abstrakter Oberbegriff soziokultureller Einstellungsmuster zur geringeren Relevanz bzw. Wertigkeit von Frauen (…) und Basis patriarchaler Bindungsgefüge. Frauen seien also weniger wert, und dies drücke sich zum Beispiel im Gender-Pay-Gap aus, so die Theorie.

„Jeder für sich!“ – so lautete auf hoher See die letzte Order des Kapitäns, wenn klar war, dass das Schiff untergehen würde. Dies war jahrhundertelang so, änderte sich aber, als mit der kommerziellen Passagierschifffahrt zunehmend Frauen und Kinder an Bord kamen. „Frauen und Kinder zuerst!“ hieß es schließlich beim Untergang der Titanic. „Keine Frau darf aus diesem Schiff zurückbleiben, nur weil Ben Guggenheim ein Feigling ist.“ – diese Worte des wohl berühmtesten Titanic-Passagiers wurden von Überlebenden des Unglücks übermittelt.

Andere Millionäre und Milliardäre, also die Inkarnation des Patriarchats dieser Zeit, brachten ihre Frauen, Töchter und Dienstmädchen in die Rettungsboote, warteten dann mit einer stoischen Ruhe auf ihren Tod und sanktionierten andere Männer, die versuchten, die Order „Frauen und Kinder zuerst“ zu umgehen. Überlebende Frauen berichteten, wie wildfremde Männer sie in die Boote schubsten und ihnen ihr eigenes Kind in die Arme drückten. Folglich war die Wahrscheinlichkeit als Frau zu überleben viermal so hoch wie die als Mann (damit übrigens auch höher als die Überlebenswahrscheinlichkeit der Kinder).1Dau, D. (2012). Ein Gentleman warf mich kopfüber ins Boot. Süddeutsche.de. Abgerufen 30. Oktober 2022, von https://www.sueddeutsche.de/reise/ueberlebende-berichten-vom-untergang-der-titanic-ein-gentleman-warf-mich-kopfueber-ins-boot-1.1329910

Wie passt das mit dem Konstrukt der Misogynie zusammen? Oder ist es Ausdruck der Misogynie, dass es die Männer den Frauen nicht zugetraut haben, für ihr Leben selbst zu kämpfen? Ist am Ende der Altruismus der vielen, den eigenen Tod akzeptierenden Männer, ein patriarchales Machtinstrument? Es folgt nun eine Sammlung neuerer sozialpsychologischer Forschungen, die allesamt nahelegen, dass es tief in uns verankert ist, dass Frauen in vielen Bereichen intuitiv, also unbewusst geschlechtsübergreifend, besser behandelt werden und hinter der Erzählung des unterdrückenden Patriarchats und der misogynen Gesellschaft mindestens ein Fragezeichen gesetzt werden darf.

  • Leistungsbewertungen am Arbeitsplatz sind weniger genau, wenn die bewertete Person weiblich ist. Dies liegt an einer höheren Bereitschaft bei Vorgesetzten, Bewertungen von Frauen nach oben zu korrigieren als bei Bewertungen von Männern.2Jampol, L., & Zayas, V. (2016). The Dark Side of White Lies in the Workplace: Feedback to women is upwardly distorted. Academy of Management Proceedings, 2016(1), 18003. https://doi.org/10.5465/ambpp.2016.18003abstract
  • Vier Experimente zeigen Unterschiede in der Bereitschaft der Probanden, auf mehr Gleichstellung hinzuarbeiten. Teilnehmer waren eher bereit, männerdominierte Berufe für Frauen zu öffnen als frauendominierte Berufe für Männer.3Block, K., Croft, A., De Souza, L., & Schmader, T. (2019). Do people care if men don’t care about caring? The asymmetry in support for changing gender roles. Journal of Experimental Social Psychology, 83, 112–131. https://doi.org/10.1016/j.jesp.2019.03.013
  • Fiktive Forschung zu biologischen Geschlechtsunterschieden wird unterschiedlich bewertet. Positives über Frauen wird als relevanter, glaubwürdiger und hilfreicher eingeschätzt als Positives über Männer.4Stewart‐Williams, S., Chang, C. Y. M., Wong, X. L., Blackburn, J. D., & Thomas, A. G. (2021). Reactions to male‐favouring versus female‐favouring sex differences: A pre‐registered experiment and Southeast Asian replication. British Journal of Psychology, 112(2), 389–411. https://doi.org/10.1111/bjop.12463
  • In Experimenten bewerten Probanden Tests, in denen Männer besser als Frauen abschneiden, eher als sexistisch, unfair und inakzeptabel als Tests, in denen Frauen besser abschneiden als Männer.5Winegard, B., Clark, C., & Hasty, C. R. (2018). Equalitarianism: A Source of Liberal Bias. SSRN Electronic Journal. https://doi.org/10.2139/ssrn.3175680
  • Teilnehmer eines Experiments sind eher geneigt, ein Buch zu zensieren, das Männer evolutionsbedingt als bessere Führungskräfte beschreibt, als ein Buch mit der gegenteiligen Aussage.6Williams, W. M., & Ceci, S. J. (2015). National hiring experiments reveal 2:1 faculty preference for women on STEM tenure track. Proceedings of the National Academy of Sciences, 112(17), 5360–5365. https://doi.org/10.1073/pnas.1418878112
  • In Experimenten zum moralischen Verhalten werfen Teilnehmer Männer häufiger vor fahrende Züge, fügen ihnen gegen Bezahlung stärkere Stromstöße zu, retten sie seltener von sinkenden Schiffen und helfen Männern generell seltener in Notsituationen.7FeldmanHall, O., Dalgleish, T., Evans, D., Navrady, L., Tedeschi, E., & Mobbs, D. (2016). Moral Chivalry: Gender and Harm Sensitivity Predict Costly Altruism. Social Psychological and Personality Science, 7(6), 542–551. https://doi.org/10.1177/1948550616647448
  • Wen sollte ein Algorithmus in einem selbstfahrenden Auto im Falle eines unvermeidbaren Unfalls eher opfern? Die zwei Millionen Teilnehmer einer wissenschaftlichen Online-Umfrage würden mehrheitlich eher Männer als Frauen opfern.8Awad, E., Bonnefon, J.-F., Shariff, A., & Rahwan, I. (2019). The Thorny Challenge of Making Moral Machines: Ethical Dilemmas with Self-Driving Cars. NIM Marketing Intelligence Review, 11(2), 42–47. https://doi.org/10.2478/nimmir-2019-0015
  • In einem Experiment mit unterschiedlichen Aggressionsszenarien bewerteten Teilnehmer weibliche Aggression als moralisch akzeptabler als männliche Aggression. Die Ergebnisse stehen im Gegensatz zur „Himpathy“-These.9Stewart-Williams, S. (2002). Gender, the Perception of Aggression, and the Overestimation of Gender Bias. Sex Roles, 46(5/6), 177–189. https://doi.org/10.1023/A:1019665803317
  • In Umfragen erhalten hypothetische Vergewaltigungsopfer mehr Empathie, wenn der Täter männlich ist. Die Empathie gegenüber weiblichen Tätern ist größer, insbesondere wenn das Opfer männlich ist. Männliche Opfer erhalten die geringste Empathie.10Osman, S. L. (2011). Predicting Rape Empathy Based on Victim, Perpetrator, and Participant Gender, and History of Sexual Aggression. Sex Roles, 64(7–8), 506–515. https://doi.org/10.1007/s11199-010-9919-7
  • In fiktiven Gerichtsprozessen verhängen Geschworenengerichte für dieselben Taten schwerere Strafen gegen Männer als gegen Frauen. Der Unterschied ist besonders groß, wenn das Opfer weiblich ist.11Mazzella, R., & Feingold, A. (1994). The Effects of Physical Attractiveness, Race, Socioeconomic Status, and Gender of Defendants and Victims on Judgments of Mock Jurors: A Meta-Analysis1. Journal of Applied Social Psychology, 24(15), 1315–1338. https://doi.org/10.1111/j.1559-1816.1994.tb01552.x
  • Ähnliches zeigt sich auch bei echten Verbrechen: Eine Auswertung von rund 77.000 Strafprozessen in den USA ergab, dass Männer für dieselben Taten seltener Bewährungsstrafen erhalten als Frauen. Gefängnisstrafen für Männer sind im Durchschnitt 63% länger.12Starr, S. B. (2015). Estimating Gender Disparities in Federal Criminal Cases. University of Michigan Law School, Law & Economics Research Paper Series, Paper No. 12–018. Available at SSRN: https://ssrn.com/abstract=2144002

Das Schema ist stets das gleiche: Frauen erfahren mehr Empathie, ihnen wird eher geholfen, und sie werden bevorzugt behandelt. Sie erscheinen wertvoller, schützenswerter und glaubwürdiger. Deshalb haben wir unzählige Talkshows über den Mangel an Frauen in Vorständen und debattieren über einen „Gender-Pay-Gap“. Doch dass Männer 3-4 mal häufiger Suizid begehen, 3-4 mal häufiger obdachlos werden und nahezu alle tödlichen Arbeitsunfälle Männer betreffen, scheint nebensächlich. Der Grund ist, und das meine ich ganz ernst: es ist nebensächlich. Männliches Leid wird als weniger bedeutend empfunden als weibliches Leid.

Einer der Gründe könnte sein, dass wir Frauen intuitiv einen höheren Wert beimessen. Evolutionsbiologisch ist das erklärbar: Für 1.000 Kinder in einem Jahr braucht es 1.000 Frauen, aber theoretisch nur einen Mann.

Die sympathische Idee, dass der Feminismus auch Männern zugutekommt, klingt verlockend. Doch ich kenne dafür keine überzeugenden Belege.

Zurück zur Titanic: Die Titanic stellt (leider) wohl eine seltene Ausnahme in Bezug auf das ritterliche Verhalten von Männern dar. Normalerweise gilt auf See das Recht des Stärkeren, sofern es keine Strukturen gibt, die für Ordnung sorgen. Nur ein konsequentes Handeln des Kapitäns und seiner Crew kann dies durchbrechen. Ohne diese Strukturen gilt in Lebens- und Todesmomenten oft das Gesetz des Stärkeren. Bei den meisten Schiffsunglücken hatten Männer eine höhere Überlebensrate als Frauen – allerdings wird der Unterschied zunehmend geringer.13Elinder, M., & Erixson, O. (2012). Gender, social norms, and survival in maritime disasters. Proceedings of the National Academy of Sciences, 109(33), 13220–13224. https://doi.org/10.1073/pnas.1207156109 Vieles hängt vom Kapitän ab. Ein trauriges Beispiel hierfür ist das Desaster der Costa Concordia (2012), bei dem der Kapitän sich in Sicherheit befand, während seine Passagiere noch an Bord um ihr Leben fürchteten. 36 Menschen verloren ihr Leben, darunter die 5-jährige Dayana. Sie war mit ihrem Vater bei einem Rettungsboot, das jedoch voll war. Niemand machte Platz für sie. Die Order „Frauen und Kinder zuerst“ wurde offensichtlich nicht ausgeführt oder gegeben.14Süddeutsche Zeitung. (2013, März 7). „Costa Concordia“: Neuer Bericht schildert Einzelschicksale. Süddeutsche.de. https://www.sueddeutsche.de/panorama/bericht-zur-havarie-der-costa-concordia-todeskaempfe-am-rettungsboot-1.1618460

Quellen

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  • 2
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  • 3
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    Mazzella, R., & Feingold, A. (1994). The Effects of Physical Attractiveness, Race, Socioeconomic Status, and Gender of Defendants and Victims on Judgments of Mock Jurors: A Meta-Analysis1. Journal of Applied Social Psychology, 24(15), 1315–1338. https://doi.org/10.1111/j.1559-1816.1994.tb01552.x
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