Steuern als Versicherungsprämien: Die Rolle des Staates
Fast eine Billion Euro haben Bund, Länder und Kommunen im Jahr 2023 an Steuern eingenommen.1Statistisches Bundesamt, Steuereinnahmen 2023 summieren sich auf rund 916 Milliarden Euro, https://www.destatis.de/DE/Themen/Staat/Steuern/Steuereinnahmen/_inhalt.html Ich mag den Begriff „Steuern“ jedoch nicht. Es wäre passender, Steuern als „Versicherungsprämien“ zu bezeichnen.
Was tun Versicherungen? Sie definieren einen Wunschzustand, zum Beispiel die Gesundheit von Individuen, und alle Menschen, die diesen Wunschzustand teilen, garantieren sich mithilfe eines Versicherungsvertrags gegenseitige Hilfe. Wird also eine versicherte Person krank und kann nicht mehr arbeiten, finanzieren die anderen Versicherten nicht nur eine ärztliche Behandlung, sondern möglicherweise auch ein Einkommen.
Der allergrößte Teil der Steuerbillionen dient nichts anderem. Über demokratische Prozesse wird ein Wunschzustand definiert, zum Beispiel Brücken, die nicht einstürzen, und mithilfe der gigantischen Versicherungsgemeinschaft wird dieser Wunschzustand dank regelmäßiger, über das persönliche Einkommen finanzierter Beiträge sichergestellt.
Über diese gigantische Versicherung werden Bildung, Polizei, Feuerwehr und Armee „versichert“. Abgehängten wird eine Existenz „versichert“. Infrastrukturprojekte werden „versichert“. Das Deutschlandticket wird „versichert“. Kollektive Wünsche werden versichert. Eine immer weiter wachsende Gesellschaft mit wachsenden Ansprüchen hat auch immer mehr zu versichern. In diesem Text wird auch nicht weiter zwischen Steuern und (gesetzlichen) Versicherungsbeiträgen getrennt, weil dies nur eine linguistische Tretmühle wäre. Es spielt systemisch keine Rolle, ob wir die Beiträge an die Allgemeinheit Steuern, Gebühr, Abgaben, Versicherungsbeitrag oder Strafzins nennen. Maximal eine psychologische.
Man muss sich klarmachen, dass die Steuerbillionen und natürlich auch die Sozialversicherungsbeiträge weitestgehend einfach nur demokratisch ausgehandelte Wunschzustände aufrechterhalten. Wollen wir, dass Rentner keine Pfandflaschen sammeln müssen oder wollen wir es nicht? Sollen Schwimmbäder für alle offen haben oder nicht? Es ist ein politische Entscheidung.
Die kollektive Wunscherfüllung geht manchmal gehörig schief. Aber wenn Sie sich darüber aufregen, dass mal 10 Millionen Euro nicht für eine kollektive Wunscherfüllung beigetragen haben, ist der Ärger zwar berechtigt und bedauerlich, allerdings sind das Kollateralschäden, die auch in der Privatwirtschaft vorkommen. Wenn Sie aufgrund der Kollateralschäden den Glauben an die Demokratie verlieren, liegt der Verdacht nahe, dass Sie nie ein Demokrat waren.
Wenn ein raffgieriger Bundestagsabgeordneter über Maskendeals kollektive Not ausnutzt und 10 Millionen Euro einstreicht, wünsche ich mir zwar auch, das Klicken von Handschellen zu hören, aber es darf auch erwähnt werden, dass dabei „nur“ 0,001 % der gesamten Versicherungsprämien (auch bekannt als Steuern) veruntreut wurden. Trotzdem bedarf es natürlich einer juristischen Aufarbeitung, weil das Vertrauen in demokratische Institutionen (bzw. Versicherungen) extrem leidet und, wie bekannt, auch Kleinvieh Mist macht. Aber zurück zur Versicherung.
Der Fortschritt begann mit der Risikoteilung
Der Wert einer Versicherung kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden; die „Technologie der Versicherung“ (François Ewald)2François Ewald, Die Versichungers-Gesellschaft (1989), https://www.jstor.org/stable/23998045 ist wohl einer der Hauptgründe für den Wohlstand in Europa. Erste Formen von Versicherungen gab es zwar schon in der Antike, aber richtig etabliert haben sie sich in der Seefahrt und den europäischen Entdeckungsreisen im späten Mittelalter und der Renaissance. Das Risiko einer Expedition war seinerzeit so gewaltig hoch und die Aussicht auf wirtschaftlichen Erfolg so gering, dass Investoren sich gegenseitig absicherten und ein Sicherheitsnetz schufen. Ein Totalverlust eines Schiffes ist für einen einzelnen Investor der Ruin, aber für ein Kollektiv an Investoren verkraftbar – insbesondere, wenn ein anderes Schiff des Kollektivs erfolgreich von seiner Reise zurückkehrt. Das Besondere an dieser Versicherung ist, dass die Versicherungsprämie im Nachhinein an die Gemeinschaft entrichtet wird, indem auf den maximal möglichen Profit, der mit einem eigenen erfolgreichen Schiff eingenommen worden wäre, verzichtet wird.
Mit Beginn des 17. Jahrhunderts entstanden die ersten Aktiengesellschaften. Die niederländische Ostindien-Kompanie hatte letztlich – Sie ahnen es – einen Versicherungscharakter. Die Investoren teilten sich das Risiko, indem sie nicht mehr mit ihrem kompletten Kapital einstiegen, sondern diversifizierten. Die Aktionäre schützten sich also gegenseitig vor dem totalen Verlust und machten dadurch alle einen vielleicht kleineren, aber viel sichereren Gewinn.
Diese enge Verflochtenheit zwischen Kapitalismus und der Versicherung beschrieb schon Max Weber (1864-1920), der betonte, dass der moderne Kapitalismus durch Rationalisierung und systematische Berechenbarkeit geprägt sei. Diese Merkmale finden sich auch im Versicherungswesen wieder, das Risiken kalkulierbar und planbar macht. Versicherungen dienen der Absicherung gegen Risiken und tragen somit zur Stabilität und Berechenbarkeit wirtschaftlicher Prozesse bei. Versicherungen, so überraschend es klingen mag, tragen auch einen solidarischen Charakter in sich, da sie nicht nur gescheiterte Biografien und gescheiterte Projekte absichern, sondern unabhängig davon, ob das Scheitern verdient ist oder nicht, einen Rettungsschirm bieten.
Versicherung als Kapitalinstrument und Grundlage für Überfluss
Jean Halperin (1921–2012) folgert in seiner Untersuchung „Les Assurances et la Suisse et dans le monde“ (1946) daher folgerichtig, dass die Versicherung die Tochter des Kapitals ist. Es soll Kapital versichert werden und mit dem Kapital auch das Einkommen, welches das Kapital aus Arbeitsleistungen abschöpft. Gibt es mehr Kapital, ist auch mehr zu versichern.
Das Teilen von Risiken erlaubt es insgesamt, mehr Risiken einzugehen, die einzelnen Akteuren sonst verwehrt blieben. Diese Risiken setzen ein ungeahntes Potenzial frei: Überfluss. Auch wenn man freilich ergänzen muss, dass die Europäer mehr durch koloniale Ausbeutung profitierten als von der Versicherung und der Risikoteilung. Letztere war nur Bedingung.
Im Rahmen seiner Gesellschaftskritik beschrieb Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), dass die Künste und Wissenschaften – einschließlich Forschung, Malerei und Philosophie – in einer Gesellschaft nur dann gedeihen können, wenn ein gewisser Überfluss vorhanden ist. Dieser Überfluss ermöglicht es den Menschen, Zeit und Ressourcen in Aktivitäten zu investieren, die über die grundlegenden Überlebensnotwendigkeiten hinausgehen.
Der Auslöser der wissenschaftlichen und später industriellen Revolution in Europa war auch die Technologie der Versicherung und der daraus entstandene Überfluss. Es wird auch klar, dass der eigentliche Innovationstreiber nicht die Arbeitsteilung ist, sondern die Risikoteilung – das Konzept der Risikoteilung ist vielmehr die Bedingung der Arbeitsteilung.
Revolutionäre Kräfte versuchten, dieses Konzept der Risikoteilung auf soziale Verhältnisse zu übertragen. Sie traten für eine Sozialversicherung ein. Die Sozialversicherung ist menschheitsgeschichtlich tatsächlich revolutionär, denn mit den immer größer werdenden Krankenkassen wurden in Deutschland Menschen miteinander verbunden und traten füreinander ein, ohne sich zu kennen. Sie waren fremd zueinander – nur eine Versicherungsurkunde machte sie gleich.
Zunächst waren eigene Milieus gänzlich unter sich in jeweils eigenen Kassen versichert, ehe die Versicherungen eine globalere Natur annahmen und milieuübergreifend Menschen verbanden. Büroangestellte und Handwerker werden in den heutigen Sozialversicherungen gemeinsam versichert und nicht mehr getrennt – trotzdem gibt es in Deutschland immer noch fast 100 gesetzliche Krankenkassen3Krankenkassen.de, Liste: Gesetzliche Krankenkassen, https://www.krankenkassen.de/gesetzliche-krankenkassen/krankenkassen-liste/.
Aber der Fortschritt hat einen sehr hohen Preis.
Wie bei der Arbeitsteilung, wo sich der Mensch von der Arbeit immer mehr entfremdet, weil er sich nicht mehr mit der Arbeit selbst verwirklicht, da er nur ein kleines Rädchen in einer riesigen Maschine ist, in der er sich nicht selbst erkennen kann, entfremdet die Versicherung die Menschen untereinander.
Vor den europäischen Revolutionen und Sozialreformen war die einzige „Rentenversicherung“, wenn man sie so nennen kann, die eigene Sippe. Im Alter weniger oder gar nicht mehr zu arbeiten, war nur realistisch, wenn eigene Kinder, Familie im Allgemeinen oder Freunde dies ermöglichten. Der sogenannte Generationsvertrag war da ganz real erlebbar, da man durch generationsübergreifende gegenseitige Hilfe reale moralische Verpflichtungen einging. Diese waren wirklich spürbar, also mit echten Gefühlen.
Entfremdung durch Versicherung: Eine Solidarität, die Menschen entfremdet
Haben Sie, wenn Sie Rentenversicherungsbeiträge zahlen, das Gefühl, dass Sie einer moralischen Verpflichtung nachkommen und Ihrer Großmutter einen passablen Lebensabend ermöglichen? Sicher nicht. Sie sind entfremdet. Großmutter ist Ihnen auch nicht mehr dankbar, was gegenseitige moralische Verpflichtungen aufrechterhalten würde, sondern sieht schlicht einen gefühlskalten rechtlichen Anspruch erfüllt. Gefühle kommen nur ins Spiel, wenn der rechtliche Anspruch bedroht zu sein scheint: Wut.
Doch zuvor wandelt sich die warmherzige Verbundenheit in einen numerischen Ausdruck, der von einer juristisch geschulten Obrigkeit kalkuliert wurde. Das entfernt die Menschen voneinander; sie entfremden sich. Die Gesellschaft wird kalt, denn wer die Versicherung in Anspruch nimmt, geht nicht mehr in Interaktion mit den Menschen, sondern mit einer Maschinerie, die einem mit einem maschinell ausgedruckten Brief konfrontiert. Der Nutzen der Versicherung wird immer weniger greifbar und vor allem empathielos.
Schon Rousseau schrieb in seinem Gesellschaftsvertrag, dass öffentliche Abgaben (Steuern oder eben Versicherungsprämien) immer lästiger werden, je weiter sie sich von ihrer Quelle entfernen. Es ist für denjenigen, der heute Rentenbeiträge zahlt, nicht mehr real spürbar, dass er damit ein Versprechen aufrechterhält, das auch seine Großeltern einst aufrechterhielten: für die Alten zu sorgen. Vielmehr bekommt er das Gefühl, er drückt etwas an den Staat ab – obwohl er es nicht tut – oder glaubt, er mache etwas für sich, weil er irgendwelche Punkte sammelt, die ihm einen rechtlichen Anspruch verleihen, obwohl der rechtliche Anspruch nur mit dem Gefühl moralischer Verpflichtung der nachkommenden Generation erfüllbar ist, welches aber nicht mehr erlebbar ist.
Rousseau: „Nicht nach der Höhe der Auflage darf das Drückende derselben bemessen werden, sondern nach dem Weg, den sie zurücklegen müssen, um wieder in die Hände zurückzukehren, aus denen sie gekommen sind. Ist dieser Umlauf schnell und gut eingerichtet, so macht es wenig aus, ob man wenig oder viel bezahlt; das Volk ist immer reich und die Finanzanlage vortrefflich. So wenig dagegen auch ein Volk hergeben mag, so wird es, wenn dieses Wenige nicht wieder zu ihm zurückkommt, durch stetes Geben bald erschöpft, der Staat wird nie reich, und das Volk bleibt stets arm.“
Unsere kollektive Staatsversicherung renoviert zwar ständig Brücken, aber eben nicht ständig vor der eigenen Nase und schon gar nicht nur für mich. Je globaler die Versicherung, desto höher sind nicht nur die Beiträge, sondern desto seltener scheint man auch davon zu profitieren und ein Sicherheitsgefühl zu haben.
Rousseau erkennt richtig, dass die Versicherung eine lästige Last ist, wenn sie immer nur Geld will, aber doch nie welches gibt. Je globaler die Versicherung, je mehr Interessen gebündelt werden und je mehr Risiken geteilt werden, desto undurchschaubarer wird sie. Diese Undurchschaubarkeit bietet keine Sicherheit mehr, vielmehr ist sie beängstigend, und sie verliert auch zunehmend ihre demokratische Strahlkraft. Die Menschen identifizieren sich nicht mit der Versicherung. Sie fühlen sich ihr ausgesetzt. Rousseau begeht jedoch einen Fehler, wenn er sagt, der Staat werde nie reich und das Volk bleibe arm. Der Staat kann gar nicht reich sein, denn er hortet nichts. Darum kann ein Volk im Verhältnis zum Staat auch nicht arm sein – es kann lediglich im Verhältnis zu anderen Völkern arm sein. Rousseau wollte wohl vielmehr ein Gefühl ausdrücken, dass man gibt und gibt, aber scheinbar nichts zurückbekommt. Das Wort „Nettosteuerzahler“ macht heutzutage gerne in neoliberalen Kreisen die Runde.
Akteure wollen damit zum Ausdruck bringen, dass sie dem Staat mehr bringen, als sie kosten. Das ist äußerst töricht. Es fängt schon damit an, dass einiges, was der Staat leistet, nicht monetär ausgedrückt werden kann (Rechtsstaatlichkeit zum Beispiel).
Die Unsichtbare Bilanz: Fehlende Wertschätzung der Versicherung
Weiter geht es mit der willkürlichen Festlegung von Bilanzkreisen. Ist der Nettosteuerzahler sicher, dass sich die von ihm genutzte Infrastruktur durch seine Beiträge trägt, und hat er herausrechnen können, wie staatliche Maßnahmen zu seinem Einkommen beigetragen haben – vielleicht mehr als bei anderen? Hat er, falls kinderlos, herausrechnen können, wie viel mehr die Erziehung und Bildung von Kindern kostet, als kinderlose Paare mehr an Steuern zahlen?
Des Weiteren wird auf staatlicher Seite sehr schlecht bilanziert – beziehungsweise gar nicht. Wenn der Staat beispielsweise für Milliarden Euro die Carolabrücken in Deutschland renoviert, sehen wir keine Bilanz, in der zig renovierte Carolabrücken im Wert von Milliarden Euro auftauchen und zur Produktivität einer Volkswirtschaft beitragen. Was aber bilanziert wird, sind die Schulden, die angeblich ganz schlecht sind, und die Steuereinnahmen (ich meinte Versicherungsprämien), die in neoliberalen Kreisen auch ganz schlecht sind. Das Positive bilanzieren wir einfach nicht. Dazu gehören zum Beispiel auch Versicherungsansprüche.
Stellen Sie sich vor, Versicherungen wären nicht erfunden worden, und Sie wollten selbst sicherstellen, nicht zu verhungern, wenn Sie Ihre Arbeit verlieren. Sie würden Geld horten – als Einkommen, das nicht verkonsumiert wird – und gegebenenfalls investieren. Jeder Vernünftige würde es tun, was lustigerweise ökonomisch zu Arbeitslosigkeit führen könnte.4Das Paradox der Sparsamkeit (auch „Sparparadoxon“ genannt) beschreibt eine wirtschaftliche Situation, in der individuelle Sparmaßnahmen zu einem volkswirtschaftlichen Problem führen können, insbesondere zur steigenden Arbeitslosigkeit. Der zentrale Gedanke ist, dass wenn viele Menschen gleichzeitig versuchen, mehr zu sparen und weniger zu konsumieren, die Gesamtnachfrage nach Gütern und Dienstleistungen sinkt. Infolgedessen verkaufen Unternehmen weniger, müssen ihre Produktion drosseln und entlassen Arbeitskräfte, um Kosten zu sparen.
Wenn wir unser ökonomisches Leben bilanzieren würden, würde diese Rücklage selbstverständlich als Asset auftauchen. Aber die Technologie der Versicherung befreit uns vom Horten.
Besonders anschaulich wird das bei der Kfz-Haftpflichtversicherung.
In der Bundesrepublik Deutschland besteht im Kfz-Straßenverkehr seit 1959 eine Kfz-Haftpflichtversicherungspflicht. Die gesetzliche Deckungssumme für Personenschäden beträgt zurzeit 7,5 Mio. Euro, für Sachschäden 1,3 Mio. Euro und für reine Vermögensschäden 50.000 Euro.5Gesetz über die Pflichtversicherung für Kraftfahrzeughalter (Pflichtversicherungsgesetz), § 4 Mindestumfang des Versicherungsschutzes; Verordnungsermächtigungen; https://www.gesetze-im-internet.de/pflvg/BJNR102130965.html#BJNR102130965BJNG000101123 Das bedeutet, dass man nur am Straßenverkehr teilnehmen darf, wenn man im Falle eines selbst verursachten Fremdschadens bis zu 8,8 Mio. Euro aufbringen kann. Die Versicherung ermöglicht es jedem Menschen, am Straßenverkehr teilzunehmen, ohne fürchten zu müssen, dass ein von ihm verursachter Schaden seinen eigenen finanziellen Ruin bedeuten würde. Ohne die „Technologie der Versicherung“ müsste jeder Verkehrsteilnehmer ein Vermögen über 8,8 Mio. Euro nachweisen. Kaum ein Verkehrsteilnehmer ist dazu in der Lage. Mithilfe des Risikos berechnet die Versicherungsgesellschaft, wie viel Prämien die Versicherungsnehmer entrichten müssen, um die vom Gesetzgeber geforderte Deckung garantieren zu können. Das Risiko ist Ausdruck der Wahrscheinlichkeit, dass ein Verkehrsteilnehmer einen Schaden X verursacht. Da nicht jeder Verkehrsteilnehmer in seinem Leben einen Schaden in Millionenhöhe verursacht oder überhaupt einen Unfall hat, muss die Versicherung schlussendlich weit weniger als die Anzahl der versicherten Verkehrsteilnehmer multipliziert mit der gesetzlichen Mindestdeckungssumme tatsächlich aufbringen oder vorweisen.
Aber, und das ist entscheidend, jeder Mensch hat „fiktive“ Rücklagen von 8,8 Millionen Euro. Doch sie tauchen nicht in der eigenen Bilanz auf, was auch richtig ist, denn die Rücklagen sind lediglich ein Versprechen. Ein Versprechen der Versicherungsgesellschaft, das sie aus den Beiträgen der Versicherungsgemeinschaft aufrechterhalten kann. Nur die Kosten stehen in der Bilanz und die Abzüge auf den Konten tun uns weh.
Übertragen Sie das gerne auf jede andere Versicherung. Schnell sind wir am Klagen, wie teuer die Krankenversicherung geworden ist. Aber dass eine langwierige und komplexe Krebsbehandlung Hunderttausende von Euro kosten kann und durch die Versicherungsgemeinschaft getragen wird, taucht in keiner individuellen Bilanz als „Asset“ auf, und genau da wird die Entfremdung spürbar. Die gegenseitige Hilfe ist eine Last, weil durch die juristische Mathematisierung der Hilfe kein Gefühl der gegenseitigen affektiven moralischen Verpflichtung aufgebaut werden kann, und Menschen schlussendlich die Versicherung, zumindest innerlich, aufkündigen.
Privatisierung von Versicherungen: Die Abkehr von Solidarität
Die Privatisierung von Sozialversicherungen, als Folge dieser innerlichen Kündigung, stellt das Konzept der Versicherung völlig auf den Kopf. Während mit dem Wachsen der Sozialversicherung immer mehr Menschen miteinander vernetzt wurden und damit ein Mehr an Freiheit geschaffen wurde, kehrt sich diese Entwicklung mit den privaten Versicherungen wieder um – mit teils grotesken Auswüchsen.
Zum Beispiel bei der Krankenversicherung:
Gutverdienende haben in Deutschland ab einer bestimmten Einkommenshöhe die Möglichkeit, sich privat gegen Krankheit zu versichern, was für sie günstiger ist, da private Versicherungen ihre Prämien nicht von der Höhe des Einkommens abhängig machen.
Gutverdienende Menschen leben häufig gesünder. Hinzu kommt, dass private Versicherungen innerhalb geltender Gesetze Vertragsfreiheit haben. Das bedeutet, dass sie Menschen, die bereits krank sind oder bei denen eine hohe Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung besteht, eher nicht versichern werden. So kann die Versicherung die Prämien niedrig halten, um einerseits am Markt attraktiv zu sein und andererseits Gewinne zu erzielen und auszuschütten (was gesetzliche Versicherungen nicht tun).
Daraus folgt: Die jungen, gesunden und gesund lebenden Menschen versichern sich selbst und isolieren sich. Das wird nicht als hochgradig asozial geframt, sondern als versicherungstechnisch notwendig, um wettbewerbsfähig zu sein.
In den jüngeren und gesünderen Jahren der Versicherten werden Teile ihrer Beiträge am Kapitalmarkt angelegt. Diese Rücklagen, inklusive der daraus erwirtschafteten Gewinne, dienen zur Finanzierung der später älteren und behandlungsbedürftigeren Versicherten – die Beitragshöhe muss so nicht aufgrund des Alters und des Krankheitsrisikos der Versicherten angepasst werden.
Aufgrund geringer Zinsen können die Kalkulationen der Versicherer allerdings nicht eingehalten werden, und die Pläne müssen über Beitragsanpassungen innerhalb gesetzlicher Rahmenbedingungen korrigiert werden, weshalb die Rückkehr zur gesetzlichen Krankenversicherung im Alter dann doch wieder attraktiv wird. Es ist grotesk.
Die privaten Krankenversicherer sind also für die einkommensstarken Individuen der Gesellschaft nicht nur günstiger aufgrund der fehlenden Einkommensbezogenheit der Beitragshöhe und weil eher gesündere Menschen versichert werden, sondern auch, weil über ökonomische Zwangsverhältnisse langfristig weitere Einkommen für den versicherten Zweck akkumuliert werden. Das ist ein wenig so, als würde man behaupten, man könne alleine schneller über den Atlantik paddeln, als ein Kollektiv segeln. Aber ganz heimlich hat das Paddelboot einen versteckten Außenbordmotor. Wenn der Sprit aufgrund von Fehlkalkulationen oder höherer Gewalt zur Neige geht, wird der Paddler vom Segelboot mitgeschleppt. (Das nennt man dann Solidarität – jemanden zu helfen, auch wenn er es vielleicht nicht verdient hat)
Besonders absurd ist, dass die gesetzliche Krankenversicherung über Arbeitseinkommen bezogen wird, aber die privaten Versicherungen ein hohes Interesse an geringen Löhnen haben, weil dann die Gewinne größer sind, die sie für ihre Versicherungsleistung nutzen können. Dasselbe Dilemma zeigt sich zwischen der gesetzlichen und der privaten Rentenversicherung. Aber dort ist alles noch viel grotesker.
Denn es gibt nicht nur die Option, sich privat zu versichern, sondern es wird politisch und medial dazu aufgefordert. Dabei wird immer wieder vom sogenannten „Säulenmodell“ gesprochen. Im Detail bedeutet das Säulenmodell, dass neben der gesetzlichen Rentenversicherung zusätzlich eine betriebliche Altersvorsorge und eine private Altersvorsorge den Lebensabend absichern sollen. Entwickelt wurde dieses Modell von der Weltbank (richtiger: International Bank for Reconstruction and Development), die damit vor allem dem demografischen Wandel entgegentreten wollte und ihr Konzept zur Bedingung für die Hilfe an Staaten machte.
Ob nun Zufall oder nicht, alle Bundesregierungen seit den 1990er Jahren propagieren exakt dieses Modell, von dem zufälligerweise besonders private Banken profitieren, die nun private Vorsorgeprodukte verkaufen können, die in Wirklichkeit einfach nur ziemlich teure Fondssparpläne sind.
Das Säulenmodell der Altersvorsorge: Ein Tretmühlen-System
Dieses Säulenmodell ist kafkaesk. Es beginnt bereits mit der Redundanz der 2. und 3. Säule. Beide Säulen sind in der Regel einfache Sparpläne, aber einmal schließt sie der Arbeitgeber für den Arbeitnehmer ab, und einmal macht es der Arbeitnehmer selbst. So kann der Arbeitgeber behaupten, er tue etwas für die Altersvorsorge seines Arbeitnehmers, obwohl er eigentlich nichts tut. Er könnte auch einfach das Geld als Lohn auszahlen und den Arbeitnehmer in seinen eigenen Sparplan einzahlen lassen. Das Geld hat dieser ja ohnehin erwirtschaftet. Das Problem ist aber, dass die Versicherung in diesem Fall nur eine Provision verdienen würde und nicht zwei. Ansonsten wird mit diesen beiden Säulen einigen hoch bezahlten Fondsmanagern ein Lebenssinn gegeben, die glauben, ihre Tätigkeit hätte irgendeinen realwirtschaftlichen Wert, und die Altersvorsorgen unzähliger Menschen hängen von ihrer Arbeit ab, obwohl diese Arbeit völlig irrelevant ist, wie Sie gleich sehen werden.
Denn wie ich gerade beschrieb, sind Säule 2 und 3 tatsächlich nur eine Säule. Aber wie sich herausstellt, sind Säule 2 und 3 auch nur eine Variante der ersten Säule, allerdings eine sehr, sehr dumme Variante.
Die Säule 1, die Umlagefinanzierung, beschreibt, dass diejenigen, die jetzt ein Arbeitseinkommen haben, diejenigen finanzieren, die keins mehr haben: die Rentner. Wenn wir die Renten nun durch Kapital decken und die Rentner von Kapitalerträgen oder der Veräußerung von Kapital leben, löst das das demografische Problem, also dass es immer weniger Beitragszahler pro Rentner gibt, mitnichten. Profite aus Kapital werden von Menschen erwirtschaftet. In Zukunft also von unseren Kindern, womit es einer Umlagefinanzierung gleichkommt, denn ob unsere Kinder über Sozialversicherungen unsere Renten sichern oder durch Lohnverzicht in Form von Gewinnen oder durch Mietzahlungen, ist Jacke wie Hose. Auch wenn Kapital veräußert wird, beispielsweise eine Immobilie, braucht es einen Käufer. Aber es gibt immer weniger potenzielle Käufer. Die arbeitende Bevölkerung ernährt die nicht arbeitende Bevölkerung, auch wenn man durch juristische Zauberei und künstliche Verkomplizierung des Generationenvertrags etwas anderes glauben mag.
Das Säulenmodell ist eine fiskalische Tretmühle
Das Säulenmodell soll dem demografischen Wandel Rechnung tragen. „Die zusätzlichen Belastungen werden dabei gerecht auf die Schultern aller Generationen verteilt“, hieß es beispielsweise 2016 von der damaligen Bundesministerin für Arbeit und Soziales Andrea Nahles unter der Merkel-Regierung.6Andrea Nahles stellt Gesamtkonzept vor am 25.11.2016, https://www.youtube.com/watch?v=l4iowW1ifs8
Dabei wird suggeriert, dass der demografische Wandel etwas Neues und Bedrohliches sei. Faktisch findet er jedoch seit jeher und besonders seit über 100 Jahren nur in eine Richtung statt: Es gibt immer weniger Kinder und immer mehr Rentner. Bemerkenswerterweise ist seitdem das Renteneintrittsalter gesunken und gleichzeitig die Lebenserwartung gestiegen, weshalb die Frage erlaubt ist, inwiefern der demografische Wandel wirklich ein Problem darstellt. Diese Frage wird in diesem Blogeintrag erörtert.
Weniger Verwunderung, sondern großen Ärger löst jedoch die Behauptung in mir aus, man wolle die Lasten auf die Schultern aller Generationen verteilen. Das ist eine grobe Irreführung, da Renten, also arbeitslose Einkommen, immer von der arbeitenden Bevölkerung finanziert werden – ohne Ausnahme. Man kann die Rentenfinanzierung also nicht auf alle Generationen verteilen.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die kapitalgedeckte, privat organisierte Versicherung, welche das Weltbankmodel letztlich ist, kein einziges Problem löst, sondern nur Probleme schafft. Sie ist unfassbar teuer, und die Aktionäre der Versicherungen wollen ja auch noch von etwas leben.
Witzigerweise war die deutsche Rentenversicherung bis zur Geburt der Bundesrepublik kapitalgedeckt, aber nach dem Zweiten Weltkrieg gab es kein Kapital mehr, das Gewinne abwerfen konnte. Kein Problem, dachte sich Gerhard Mackenroth, der Verfechter der bis heute existierenden Umlagefinanzierung der Rente, Anfang der 1950er Jahre: „Nun gilt der einfache und klare Satz, dass aller Sozialaufwand immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden muss. Es gibt gar keine andere Quelle und hat nie eine andere Quelle gegeben, aus der Sozialaufwand fließen könnte, es gibt keine Ansammlung von Periode zu Periode, kein ‚Sparen‘ im privatwirtschaftlichen Sinne, es gibt einfach gar nichts anderes als das laufende Volkseinkommen als Quelle für den Sozialaufwand. Das ist auch nicht eine besondere Tücke oder Ungunst unserer Zeit, die von der Hand in den Mund lebt, sondern das ist immer so gewesen und kann nie anders sein.“
Nur ein Punkt wurde von Mackenroth vernachlässigt: Die kapitalgedeckte Variante bietet die Chance, Kapitaleinkommen im Ausland zu generieren. Dies praktizieren zum Beispiel die Schweden. Im Jahr 2020 war der größte europäische Fonds der schwedische Pensionsfonds AP7 Aktienfonds. Die Schweden haben zwar genauso ein Umlageverfahren wie wir Deutschen, aber seit 1998 sind die schwedischen Bürger verpflichtet, 2,5 % ihres Bruttolohns für die Altersvorsorge zu investieren. Es gibt mehrere Fonds zur Auswahl, aber die meisten entscheiden sich für den „Standard“-Fonds AP7.7Charlotte Raskopf, Der schwedische Pensionsfonds AP7: ein Vorbild für Deutschland?, https://www.capital.de/geld-versicherungen/der-schwedische-pensionsfonds-ap7-ein-vorbild-fuer-deutschland-121842
Globale Investitionen: Lindners macht fast etwas richtig
Das ist natürlich clever, und andere Nationen haben eigentlich keine andere Wahl, als diesem Beispiel zu folgen. Die Schweden haben somit quasi Mackenroths Logik verlassen und sagen sich: „Nein, wir erweitern unser Volkseinkommen durch Investitionen ins Ausland.“ Nehmen wir an, der AP7 ist in Volkswagen investiert, dann bedeutet das, dass die Arbeiter in Wolfsburg nicht mehr nur die Rentner in Deutschland finanzieren, sondern durch die Gewinne, die nun auch nach Schweden fließen, ebenfalls die schwedischen Rentner.
In einer globalisierten Welt war das ohnehin immer irgendwie der Fall, aber systemisch müsste eigentlich ein deutscher Aktienfonds in Ikea investieren. Insofern trifft Christian Lindner mit seiner Idee der Aktienrente den Nagel auf den Kopf, allerdings nicht aus volkswirtschaftlicher Logik, sondern aus purer neoliberaler Ideologie.
Christian Lindner und die FDP schlagen ein Konzept der Aktienrente8Freie Demokraten/FDP, Das Altersvorsorgedeopt- ein Gamechanger,https://www.fdp.de/das-altersvorsorgedepot-ein-gamechanger, 30.09.2024 vor, über das im Bundestag bereits Ende September debattiert wurde.9Deutscher Bundestag, Bundesregierung will Aktienrente einführen, https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2024/kw39-de-rentenniveau-1017754
Dieses beinhaltet die Einführung eines staatlich geförderten Altersvorsorgedepots ab 2026. Bürger können zwischen einer erweiterten Riester-Rente und einem eigenen Altersvorsorgedepot wählen. Das Altersvorsorgedepot bietet mehr Freiheiten bei der Anlage in Wertpapiere (z. B. ETFs, Einzelaktien), aber ohne Beitragsgarantien. Es wird staatlich gefördert, mit einem Zuschuss von 20 Cent pro eingezahltem Euro – max. 3.000 Euro pro Jahr. Spezielle Zulagen und Boni gibt es für Eltern, Geringverdiener und Berufseinsteiger. Hochrisikoprodukte wie Krypto-Assets sind ausgeschlossen.
Auch die Riester-Rente, die genau genommen schon eine Art Aktienrente ist, erhält eine neue Variante. Um mehr am Kapitalmarkt profitieren zu können, wird eine Variante vorgeschlagen, die nicht mehr 100 % aller eingezahlten Beiträge garantiert, sondern nur 80 %. So haben die Fondsmanager mehr Spielraum bei der Anlagestrategie, was die Chancen auf höhere Renditen erhöht.
Runtergebrochen schlägt die FDP also eine Riester-Rente mit 80%iger Garantie und eine Riester-Rente ohne Garantien vor und nennt es auf ihrer Website „ein Gamechanger“. Die Idee dahinter ist ja recht löblich: Die „aktienfaulen“ Deutschen sollen vom Kapitalmarkt profitieren.
Das würden sie sofort tun, wenn man Kapitalerträge einfach sozialversicherungspflichtig stellen würde. Die Neoliberalen behaupten, dass die gesetzliche Rentenversicherung ohne Kapitalstock keine Chance zum Überleben hätte – was, naja, richtig und falsch zugleich ist.
Die Rente ist abhängig vom Volkseinkommen – sie wird, wie Mackenroth es richtig beschrieben hat, vom laufenden Einkommen getragen. Immer. Egal, ob sie kapitalgedeckt gestaltet ist oder nicht.
Nun ist es aber so, dass der Anteil des Kapitaleinkommens am Volkseinkommen tendenziell steigt – welches aber an der Finanzierung der gesetzlichen Renten nicht beteiligt wird.10Charlotte Bartels, Einkommensverteilung in Deutschland, DIW Wochenbericht, 3/2018, https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.575222.de/18-3.pdf
Weiterhin zeigt sich, dass die unteren Reallöhne, die die gesetzlichen Renten mittragen, deutlich langsamer steigen als die oberen Reallöhne, die sich aber aufgrund der Beitragsbemessungsgrenze nicht im gleichen Maße mehr an der Finanzierung der Renten beteiligen.11ebenda
Anstatt dafür zu sorgen, dass das gesamte Volkseinkommen an der Finanzierung der gesetzlichen Rente beteiligt ist (also auch Kapitaleinkommen), will Lindner einfach jeden dazu bringen, mehr Einkommen aus Kapital zu generieren. Die Neoliberalen scheinen wirklich zu glauben, dass Geld arbeitet. Menschen, die nicht von der gesetzlichen Rente betroffen sind, lassen sich alles Mögliche einfallen, damit sie ihr auch weiter fern bleiben.
Das Dilemma, dass die aktuellen Kapitaleinkommen ausschließlich zum eigenen Lebensabend beitragen, die aktuellen Löhne aber zum Lebensabend anderer herhalten müssen, berührt Lindner in keinster Weise. Ihm ist wahrscheinlich dieses Problem nicht mal bewusst. 2024 wurde bereits eine andere Lindnersche Idee umgesetzt: das „Generationenkapital“. Dabei investiert der Bund global und diversifiziert, um mit den Kapitalerträgen die gesetzliche Rente zu stützen. Zwar ist hier löblich zu erwähnen, dass die globale Investition wirklich Sinn macht (weil es andere auch tun), aber der Begriff „Generationenkapital“, der suggerieren soll, dass nun welches aufgebaut wird, ist irreführend. Das Generationenkapital existiert schon längst. Es ist nur in den Händen sehr weniger, die sich nicht oder kaum an der Finanzierung der gesetzlichen Rente beteiligen.
Die FDP befeuert das paranoide Spiel zwischen den divergierenden Interessen von kapitalgedeckten und umlagefinanzierten Rentensystemen. Die kapitalgedeckte Altersvorsorge strebt nach hohen Kapitalrenditen, was oft durch niedrige Löhne und geringe Produktionskosten begünstigt wird – Bedingungen, die nicht im Interesse der arbeitenden Bevölkerung liegen. Im Gegensatz dazu basiert das Umlagesystem auf hohen Löhnen, wodurch die Rentenbeiträge steigen und die Auszahlungen an Rentner gesichert werden. Dies zeigt, dass die beiden Systeme nicht nur unterschiedliche Finanzierungsquellen nutzen, sondern auch diametral entgegengesetzte wirtschaftliche und soziale Ziele verfolgen.
Besonders unsinnig wird Lindners Idee dadurch, dass jeder Beitragszahler ein individuelles Konto hat und die Renten nicht quersubventioniert werden, was den Sinn einer Versicherung weiter ad absurdum führt. Das Wesen der Versicherung ist nämlich, dass es für ein Individuum völlig unvorhersehbar ist, ob der versicherte Fall eintreten wird. Ich weiß nicht, ob ich morgen mit dem Auto einen Unfall haben werde. Deshalb versichere ich mich.
Genauso wenig weiß ich, ob ich das Renteneintrittsalter überhaupt erreiche. Noch weniger weiß ich, wie lange ich dann als Rentner leben werde.
Sich über eine klassische Umlagefinanzierung zu versichern, macht nicht nur logisch Sinn, es ist auch effizient. Denken Sie an die Kfz-Haftpflicht: Wenn es diese nicht gäbe, müsste jeder zig Millionen auf dem Konto haben, um Auto fahren zu dürfen, und bräuchte das Geld, wenn der schlimmste aller möglichen Unfälle passiert – im Falle der Rentenversicherung ist der „Unfall“ tatsächlich das lange Leben über das Renteneintrittsalter hinaus.
Aber richtig pervers wird es bei einem Punkt, den ich bisher nur einmal angesprochen habe. Wie wir bereits wissen, ist auch ein kapitalgedecktes System von unseren Kindern abhängig. Doch wer hat die geringsten Chancen, Kapital aufzubauen und so von der Arbeit unserer Kinder zu profitieren? Richtig, diejenigen, die die Kinder auf die Welt bringen und großziehen. Die werden vom Neoliberalismus komplett hinters Licht geführt – es trifft vor allem Frauen.
Ungerechtigkeiten in der Altersvorsorge: Wer die Rente tatsächlich sichert, wird bestraft
Es wird weder durch Kinderfreibeträge, Steuererleichterungen noch durch Riester-Zuschüsse berücksichtigt, was Kinder tatsächlich kosten, auch wenn das Wort „kosten“ vielleicht unangebracht erscheint – mir fällt jedoch kein besseres ein.
Vor allem alleinerziehende Mütter sind von Altersarmut betroffen12Friedrich Ebert Stiftung, Was bedeutet Altersarmut?, https://www.fes.de/wissen/gender-glossar/altersarmut, auch weil sie kaum eine Möglichkeit haben, etwas zurückzulegen und Kapital aufzubauen. Die sicherste Variante, im Alter eine gute Rente zu haben, ist – insbesondere für Frauen – keine eigenen Kinder zu haben.
Diejenigen, die keine Kinder haben, profitieren im kapitalgedeckten Modell am meisten von den Kindern anderer. Aber passiv von der Arbeit anderer zu profitieren, ist im Kapitalismus ein gern gesehenes Konzept. Man muss sich den Irrsinn wirklich vergegenwärtigen. Insbesondere alleinerziehende Frauen leben hart an der Armutsgrenze und ziehen Kinder auf, die dann die Dividenden derer erwirtschaften, die keine Kinder haben. Letztere werden dann als „verantwortungsvoll“ und „finanziell gebildet“ dargestellt.
Noch fragwürdiger wird es, wenn Lindnersche Ideen, wie die Förderung von Fondssparplänen für die Rente, Wirklichkeit werden, die letztlich dazu führen, dass diejenigen, die es sich leisten können, Rücklagen zu bilden, belohnt werden. Diejenigen, die es sich nicht leisten können (alleinerziehende Mütter), haben einfach Pech. Was sind sie auch so unvernünftig und haben Kinder – diese kleinen Wesen, die eigentlich die einzige wahre Rentenversicherung sind.
Wir erleben sozialversicherungstechnisch, insbesondere in Bezug auf die Rentenversicherung, einen Weg zurück ins Private. Jeder sorgt also selbst vor. Was vor Jahrhunderten schlicht und ergreifend eigene Kinder waren, sind nun aber nicht selten die Kinder anderer. Eine ganz besondere Form der Ausbeutung.
Genau das gleiche Konzept steckt hinter der Idee, durch Investitionen im Ausland Einkommen für die Renten zu generieren. Da wir zu wenige Kinder haben, pressen wir über ökonomische Zwangsverträge die Kinder in anderen Ländern aus. Das wird jedoch nicht lange gutgehen, denn nahezu alle Länder der Welt stehen vor erheblichen demografischen Herausforderungen. Global betrachtet prognostiziert eine Studie der University of Washington ein Absinken der Fertilitätsrate auf etwa 1,5 bis zum Jahr 2100. Für eine stabile Bevölkerung sind aber 2,1 Kinder pro Frau nötig.
Eine Volkswirtschaft kann also auf Dauer sein demografisches Problem, wenn es denn eines gibt, nicht einfach „exportieren“.
In extrem neoliberalen Kreisen kursieren derweil Rechnungen darüber, wie viel mehr jemand an Rente bekommen würde, wenn die Beiträge der gesetzlichen Rentenversicherung über das gesamte Arbeitsleben selbst investiert worden wären. Laut dem für Nius (laut eigener Aussage die Stimme der Mehrheit) schreibenden Kolumnisten Ben Brechken kämen angeblich Tausende von Euro an Rente heraus.13Ben Brechken, NIUS, https://www.nius.de/kommentar/wir-koennten-millionaere-sein-die-gesetzliche-rente-gehoert-abgeschafft/90dcf64b-0946-4ea1-accf-17e09b888db3, 23.09.2024 ; https://x.com/ben_brechtken/status/1838169079992991811
Mein Lieblings-Neoliberalismusextremist hat dabei einige Probleme schlichtweg ignoriert. Es beginnt mit der Inflation, geht weiter über methodische Umsetzungsprobleme (heutige Rentenbeiträge finanzieren aktuelle Renten, man kann sie nicht einfach investieren) und endet mit dem demografischen Wandel.
Er glaubt, man könne dann im Alter bis zu 5.000 Euro im Monat „entnehmen“. Aus einem Kapitaltopf kann man jedoch nicht einfach Geld entnehmen; man muss Vermögenswerte liquidieren, und das benötigt Käufer, oder man erzielt arbeitslose Einkommen über Dividenden oder Mieten. Wer auf Erden soll 5.000 Euro pro Monat für Ben Brechkens Rente aufbringen? Sie glauben wirklich, dass Geld arbeitet oder am Baum wächst.
Versicherungen schaffen Sicherheiten, die Menschen glauben lassen, keine Versicherung zu brauchen
Aber am Ende werden Brechkens Ideen zumindest tendenziell so umgesetzt werden. Denn die neoliberalen Akteure werben mit dem Zinseszinseffekt (also Kapitalerträge werden reinvestiert) und den tatsächlich langfristig (20 Jahre und mehr) nahezu sicheren Kursgewinnen. Alles Argumente, welche die etwas träge und undurchschaubare gesetzliche Rentenversicherung nicht bieten kann. Aber das viel größere Argument: Gutverdiener müssen mit der Privatisierung der Rente nicht für die Rente von Geringverdienern aufkommen – und wer hat politisch mehr Macht? Genau.
Außerdem sind Kapitalerträge auch noch sozialversicherungsfrei, was es noch einfacher macht, Vermögen aufzubauen. Meine These ist, dass genau dieser Punkt, dass einige Akteure sich den öffentlichen Kassen entziehen bzw. entziehen können, diese Kassen weiter marodieren lässt.
Die Fans der privaten, kapitalgedeckten Vorsorge gehen tatsächlich höhere Risiken ein (sie wissen nicht, ob sie Rentner werden, sie wissen nicht, wie lange ihr Geld für die Rente reichen muss, sie wissen nicht, wie hoch die Lebenskosten sein werden, sie wissen nicht, ob die Kursentwicklungen der letzten Jahrzehnte sich fortsetzen – sie wissen so viel nicht; all diese Fragen stellen sich bei einer direkten Umlagefinanzierung einfach nicht), zwingen aber durch ihre unbewusste Risikobereitschaft andere auch zu mehr Risiko, da nun ihr Beitrag für die Umlagefinanzierung, die Rentnern heute ein Leben ermöglicht, wegfällt.
Während die Diskussionen um die Rentenprivatisierung und die Risiken kapitalgedeckter Vorsorge weitgehend im finanziellen Rahmen bleiben, offenbart sich ein ähnliches Muster der Risikowahrnehmung und -verwaltung in ganz anderen Bereichen unseres Lebens, wie der öffentlichen Gesundheit. Genau wie bei der Rentenversicherung, wo individuelle Interessen kollektive Interessen zu untergraben drohen, zeigt sich im Bereich der Impfungen, wie die individuelle Risikowahrnehmung kollektive Schutzmaßnahmen beeinflussen kann.
Die Masern, deren Sterblichkeitsrate der WHO zufolge bei etwa 0,01 bis 0,1 % liegt14Robert Koch Institut, Masern, https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Ratgeber_Masern.html, sind in Deutschland aufgrund der verbreiteten Impfung kein großes Thema mehr – leider muss man fast sagen.
Zunächst leisteten Individuen einen eigenen Beitrag, um einem globalen Problem Herr zu werden – sie gingen das Impfrisiko ein.
Sie zahlten einen Preis, um das Glücksspiel des Lebens beherrschbar zu machen. Das Impfrisiko ist quasi eine Versicherungsprämie. Während es früher völlig normal war, dass man jemanden im Bekanntenkreis hatte, der an den Masern oder sogar an Spätfolgen litt, vielleicht sogar gestorben ist, ist das nun dank des medizinischen Fortschritts und einer kollektiven Leistung kein Thema mehr. Die Masern hat man „im Griff“, auch wenn man vom Ziel der Ausrottung noch weit entfernt ist – auch weil sich in den Industriestaaten eine Impfscheue breit macht. 15Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, https://www.masernschutz.de/themen/masern-impfung/#tab-16353-c10033 Also ausgerechnet dort, wo die Masernimpfung ein durchschlagender Erfolg war, wird die Impfung zunehmend als viel riskanter wahrgenommen als das, was sie zu bekämpfen versucht.
Argumente der persönlichen Freiheit machen die Runde, die paradoxerweise eben wegen der gegenseitigen Versicherung überhaupt erst möglich wurde. Der Wert der Versicherung ist nicht mehr erlebbar. Die neue Normalität wird nicht mehr als Gewinn wahrgenommen, der zu zahlende Preis, das Impfrisiko, ist daher indiskutabel hoch. Der wahrgenommene Preis der Versicherung wurde größer als ihr Wert und wird deshalb aufgekündigt.
Genau dieses Argument nutzen die Neoliberalen, allen voran AfD und FDP: Der Preis für die Umlagefinanzierung sei indiskutabel hoch. Dabei ist die Versicherung die günstigste aller Varianten. Es ist sogar die einzige Variante. Versicherungen schaffen Freiheit. Aber Freiheit für Alle ist mit neoliberalen Parteien nicht zu machen.
Die AfD steht dazu auch ganz offen. Sie ist die einzige der großen Parteien, die den Begriff „Solidarität“ – der wie kein anderer dafür steht, anderen, glückloseren, mehr Freiheit zu ermöglichen, der quasi das ausdrückt, was Versicherungen verrechtlichen – in ihrem Parteiprogramm nicht verwendet. Nicht mal die FDP hat das hinbekommen. Beide Parteien verklären die Konzepte der privaten Vorsorge zu einem Fetisch und übersehen dabei, dass es letztlich ein Oxymoron ist. Renten- oder Krankenfinanzierung ist immer eine kollektive Leistung – selbst wenn man vorgibt, sie wäre privat.
Quellen
- 1Statistisches Bundesamt, Steuereinnahmen 2023 summieren sich auf rund 916 Milliarden Euro, https://www.destatis.de/DE/Themen/Staat/Steuern/Steuereinnahmen/_inhalt.html
- 2François Ewald, Die Versichungers-Gesellschaft (1989), https://www.jstor.org/stable/23998045
- 3Krankenkassen.de, Liste: Gesetzliche Krankenkassen, https://www.krankenkassen.de/gesetzliche-krankenkassen/krankenkassen-liste/
- 4Das Paradox der Sparsamkeit (auch „Sparparadoxon“ genannt) beschreibt eine wirtschaftliche Situation, in der individuelle Sparmaßnahmen zu einem volkswirtschaftlichen Problem führen können, insbesondere zur steigenden Arbeitslosigkeit. Der zentrale Gedanke ist, dass wenn viele Menschen gleichzeitig versuchen, mehr zu sparen und weniger zu konsumieren, die Gesamtnachfrage nach Gütern und Dienstleistungen sinkt. Infolgedessen verkaufen Unternehmen weniger, müssen ihre Produktion drosseln und entlassen Arbeitskräfte, um Kosten zu sparen.
- 5Gesetz über die Pflichtversicherung für Kraftfahrzeughalter (Pflichtversicherungsgesetz), § 4 Mindestumfang des Versicherungsschutzes; Verordnungsermächtigungen; https://www.gesetze-im-internet.de/pflvg/BJNR102130965.html#BJNR102130965BJNG000101123
- 6Andrea Nahles stellt Gesamtkonzept vor am 25.11.2016, https://www.youtube.com/watch?v=l4iowW1ifs8
- 7Charlotte Raskopf, Der schwedische Pensionsfonds AP7: ein Vorbild für Deutschland?, https://www.capital.de/geld-versicherungen/der-schwedische-pensionsfonds-ap7-ein-vorbild-fuer-deutschland-121842
- 8Freie Demokraten/FDP, Das Altersvorsorgedeopt- ein Gamechanger,https://www.fdp.de/das-altersvorsorgedepot-ein-gamechanger, 30.09.2024
- 9Deutscher Bundestag, Bundesregierung will Aktienrente einführen, https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2024/kw39-de-rentenniveau-1017754
- 10Charlotte Bartels, Einkommensverteilung in Deutschland, DIW Wochenbericht, 3/2018, https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.575222.de/18-3.pdf
- 11ebenda
- 12Friedrich Ebert Stiftung, Was bedeutet Altersarmut?, https://www.fes.de/wissen/gender-glossar/altersarmut
- 13Ben Brechken, NIUS, https://www.nius.de/kommentar/wir-koennten-millionaere-sein-die-gesetzliche-rente-gehoert-abgeschafft/90dcf64b-0946-4ea1-accf-17e09b888db3, 23.09.2024 ; https://x.com/ben_brechtken/status/1838169079992991811
- 14Robert Koch Institut, Masern, https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Ratgeber_Masern.html
- 15Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, https://www.masernschutz.de/themen/masern-impfung/#tab-16353-c10033