es gibt gesundes und ungesundes Essen – aber nicht wie Sie jetzt denken

hauptsache es schmeckt
Guten Appetit (©grillsportverein.de)

Nahrungsaufnahme und Sex – also Selbsterhaltung und Fortpflanzung sind die Kernmotivationen unserer Handlungen. Aber heute bleiben wir mal beim Essen: die Art und Weise, wie wir mit Essen umgehen, wie wir Essen beschaffen und wie wir Essen ‚essen‘, hat einen überraschend großen Einfluss auf soziale Verhältnisse. Klar ist, dass in allen Kulturkreisen der Erde gemeinsames Essen eine vertrauensstiftende Kulturleistung ist, die offenbar tief in uns verankert ist. Für die uns genetisch so nahen Schimpansen ist beispielsweise das Teilen von Essen das höchste aller Vertrauenssignale.1Engelmann, J. M., & Herrmann, E. (2016). Chimpanzees Trust Their Friends. Current Biology, 26(2), 252–256. https://doi.org/10.1016/j.cub.2015.11.037  Die Männchen der berühmten Ngogo-Schimpansengruppe verzehren gemeinsam ihre Beute, bevor sie gemeinsam in den Krieg gegen benachbarte Stämme ziehen – abseits dessen ist das Teilen von Essen nur zwischen den Schimpansen zu sehen, die eine sehr enge Freundschaft pflegen. Gemeinsames essen ist nicht nur ein Signal von Vertrauen, sondern schafft auch Vertrauen. Das merken wir uns mal.

Kinder, die regelmäßig gemeinsame Mahlzeiten mit den Eltern zu sich nehmen, sind psychisch als auch physiologisch gesünder sowie reifen intellektuell besser. Die Teilnahme an Gesprächen am Esstisch bietet Kindern die Möglichkeit einen Wortschatz anzueignen, das Verfassen und Verstehen von Geschichten und Erklärungen zu üben, sich Allgemeinwissen anzueignen und zu lernen, wie man auf kulturell angemessene Weise spricht.2Musick, K., & Meier, A. (2012). ASSESSING CAUSALITY AND PERSISTENCE IN ASSOCIATIONS BETWEEN FAMILY DINNERS AND ADOLESCENT WELL-BEING. Journal of marriage and the family, 74(3), 476–493.3Neumark-Sztainer, D., Wall, M., Story, M., & Fulkerson, J. A. (2004). Are family meal patterns associated with disordered eating behaviors among adolescents? Journal of Adolescent Health, 35(5), 350–359. https://doi.org/10.1016/j.jadohealth.2004.01.0044Snow, C. E., & Beals, D. E. (2006). Mealtime talk that supports literacy development. New Directions for Child and Adolescent Development, 2006(111), 51–66. https://doi.org/10.1002/cd.155 Fehlen regelmäßige gemeinsame Mahlzeiten, erhöht sich das Risiko einer destruktiven Nutzung von Social-Media für die Kinder erheblich.5Jagtiani, M. R., Kelly, Y., Fancourt, D., Shelton, N., & Scholes, S. (2019). #StateOfMind: Family Meal Frequency Moderates the Association Between Time on Social Networking Sites and Well-Being Among U.K. Young Adults. Cyberpsychology, Behavior, and Social Networking, 22(12), 753–760. https://doi.org/10.1089/cyber.2019.0338 Aufgrund mangelnder sozialer Kompetenz suchen sie sozialen Anschluss online, was wiederum die Kompetenzdifferenz zu anderen weiter ansteigen lässt. Ein Teufelskreis. Natürlich ist Korrelation keine Kausalität – nicht unbedingt das Essen selbst macht gesünder, sondern die aus den Situationen entstehenden Gespräche und der Vertrauensaufbau entwickeln soziale Kompetenzen und eine höhere Resilienz. Gespräche beim Essen sind andere Gespräche als ohne Essen. Während der gemeinsamen Mahlzeiten wird die Atmosphäre eher empathischer.

Gemeinsames Essen schafft also Urvertrauen? Das ist gar nicht mal so abwegig. Es fängt mit der Muttermilch an. Die Mutter teilt Nahrung mit dem Kind und bekommt das Kind nicht ausreichend Nahrung, wird es das Kind schwer haben, eine gesundes Maß Urvertrauen (andere nennen es Gottvertrauen) aufzubauen. Vertrauen, frei nach Luhmann, soll soziale Komplexität reduzieren und uns glauben lassen, dass etwas Gutes passiert, obwohl auch etwas anderes passieren könnte. Das Kind kann beispielsweise unmöglich wissen, ob es die Brust jemals wieder bekommt, aber mit genügend Vertrauen hat das Kind ein „Quasiwissen“. Das Teilen von Essen bedient den Vertrauensaufbau auch bei Erwachsenen gleich auf mehreren Ebenen.

  1. Wir teilen gemeinsame Grundbedürfnisse. Durch gemeinsame positive Erlebnisse entsteht Sympathie und was könnte positiver sein, als das Erfüllen von Grundbedürfnissen.
  2. Wir teilen knappe Ressourcen. Essen wächst im Kapitalismus zwar im Kühlschrank, aber trotzdem ist es knapp und vor allem existenziell. Wenn Kobold für Autobatterien knapp ist, ist das nicht existenziell, weshalb Autobatterien nicht hilfreich sind, um Vertrauen aufzubauen.
  3. Während der Nahrungsaufnahme sind wir verwundbar. Wenn in Situationen, in denen dir was passieren könnte, nichts passiert, entsteht kognitives Vertrauen.

Hier muss kurz erklärt werden, was kognitives Vertrauen ist. Luhmann selbst schlussfolgert nämlich, dass Vertrauen eine affektive Gegebenheit sein muss. Denn die Reduzierung des zugeschriebenen Handlungsspielraums des Gegenübers schließt aus, dass eine Reduzierung vorab reflektiert und in irgendeiner Form bewusst entschieden wurde. Eine bewusste Reduzierung bedingt, dass dem Gegenüber zunächst ein hohes Maß an Handlungsspielraum zugeschrieben wurde, also wenig Vertrauen entgegengebracht wird. Maßnahmen, um kognitives Vertrauen aufzubauen, sollen also mangelndes affektives Vertrauen korrigieren.6Luhmann, N. (2009). Vertrauen: Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität (Nachdr. d. 4. Aufl). Lucius & Lucius. So ist es für die Menschheit ein Glücksfall, dass in allen Kulturkreisen das gemeinsame Essen eine Gepflogenheit und damit der Aufbau kognitiven Vertrauens gut möglich ist – weil affektiv der Mensch dem Mensch doch oft ein Wolf zu sein scheint.7Barone, F. (2020, Dezember 29). Craving comfort: Bonding with food across cultures. Human Relations Area Files – Cultural Information for Education and Research. https://hraf.yale.edu/craving-comfort-bonding-with-food-across-cultures/

Unabhängig davon berichteten die Teilnehmer einer Studie während einer Mahlzeit über weniger dominante und unterwürfige und mehr angenehme Verhaltensweisen und nahmen ihre Interaktionspartner als positiver wahr. Diese Ergebnisse waren weitgehend unabhängig von Kontextfaktoren wie dem Geschlecht und der Rolle des primären sozialen Interaktionspartners, der Anwesenheit mehrerer Partner und dem Ort der Interaktion. Insgesamt waren die sozialen Interaktionen während einer Mahlzeit positiver, was die Gefühle, das Verhalten und die Wahrnehmung der anderen angeht. Gleichzeitig war das aktionistische Verhalten geringer. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass gemeinsame Mahlzeiten Ereignisse sind, bei denen affiliative Bindungen8 affiliative Reaktionen, Verhaltensweisen, die den Wunsch nach Kontaktaufnahme signalisieren (spektrum.de) gestärkt werden, während die Hierarchie weniger ausgeprägt ist.9aan het Rot, M., Moskowitz, D. S., Hsu, Z. Y., & Young, S. N. (2015). Eating a meal is associated with elevations in agreeableness and reductions in dominance and submissiveness. Physiology & Behavior, 144, 103–109. https://doi.org/10.1016/j.physbeh.2015.03.014

Für ein gelungenen Beziehungsaufbau bzw. Beziehungspflege finden Forscher der University of Chiacgo sogar Belege, dass es einen Unterschied macht, ob wir lediglich gemeinsam Essen oder die gleiche Mahlzeit essen. Menschen, die das Gleiche essen wie wir selbst, sind vertrauenswürdiger.10Woolley, K., & Fishbach, A. (2017). A recipe for friendship: Similar food consumption promotes trust and cooperation. Journal of Consumer Psychology, 27(1), 1–10. https://doi.org/10.1016/j.jcps.2016.06.003

Aber ganz abseits dessen, wie wir Essen ´essen´, hat auch die Essensbeschaffung einen unbewussten Impact auf soziale Fragen. Die Geschichte der Menschheit allein ist eng mit der Sesshaftwerdung verbunden – also der Umstellung der Nahrungsbeschaffung weg von Jagen und Sammeln, hin zum Ackerbau, mit den bekannten Konsequenzen: Privateigentum, Patriarchat, Kriege, Hunger, monotone Ernährung, hohe Kindersterblichkeit uvm.11Harari, Y. N. (2018). Eine kurze Geschichte der Menschheit (J. Neubauer, Übers.; 1. Auflage, der Weltbestseller in limitierter Sonderausgabe). Penguin Verlag.

Während man beim Jagen und Sammeln auf gemeinsame Kooperation angewiesen ist, um einen möglichst hohen Ertrag zu generieren (bei benachbarten Gorilla-Gruppen ist bspw. zu beobachten, dass sie bei der Nahrungssuche vorübergehend kooperieren) ist beim Ackerbau erstmal Landnahme notwendig und damit Verteidigung gegen den ehemaligen Kooperateur, der nun dort kein Futter mehr zu suchen hat. Während die Jäger nichts davon haben, ihre Beute für sich allein zu vereinnahmen, weil sie nicht wissen können, wann sie wieder Jagderfolg haben, wohl auf den Erfolg andere angewiesen sein werden und außerdem unmöglich ein ganzes Mamut alleine verzehren können, ehe Reste verdorben sind, rationalisieren Bauern den Ackerbau, der die Versorgen der eigenen Sippe plangerecht sicher stellen soll.12Voland, E. (2019). Die Natur der Solidarität. In Solidarität. Begriff und Problem. (S. 297–318). Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft. Statt zu jagen, wurde angebaut. Statt zu teilen, wurde nun gehandelt.

Man könnte sagen, dass das Solidaritätsniveau durch den Ackerbau sank und das lässt sich durchaus mit Daten belegen: China gilt beispielsweise als eine kollektivistische Gesellschaft. Während der Westen (USA, Europa) eher kategorial-analytisch sowie individualistisch denkt, geschieht dies in Ostasien (China, Japan) dagegen eher assoziativ-ganzheitlich und kollektivistisch.13Spitzer, M. (2014). Östliches und westliches Denken. Gibt es das? Warum? Und was folgt? Nervenheilkund (9), 639–647. Talhelm et al. (2014) postulieren einen Zusammenhang mit dem Reisanbau und fütterten diese These auch mit empirischen Daten. Anders als der in Europa dominierende Weizenanbau, der einfach nur ein wenig Regen braucht, benötigt der in China dominierende Reis viel mehr Wasser, weshalb die chinesischen Reisbauern mehr kooperieren mussten, um die Wasserwirtschaft für alle nutzbar zu machen, um so in der Summe die maximale Ernte für alle zu ermöglichen. Diese individualistischen bzw. kollektivistischen Tendenzen aufgrund unterschiedlicher historischer Nahrungsbeschaffung sind nicht nur zwischen Europa und China beobachtbar, sondern sogar in China selbst: Reis wird hauptsächlich im Süden Chinas angebaut und dort werde kollektivistischer gedacht.14Talhelm, T., Zhang, X., Oishi, S., Shimin, C., Duan, D., Lan, X., & Kitayama, S. (2014). Large-Scale Psychological Differences Within China Explained by Rice Versus Wheat Agriculture. Science, 344(6184), 603–608. https://doi.org/10.1126/science.1246850

In Anbetracht dessen, sind gesellschaftliche Auswirkungen von Interesse, wie die immer massivere Automatisierung in der Nahrungsmittelproduktion mit den Vereinsamungstendenzen in einem Zusammenhang stehen. Das Essen wächst im Supermarkt und gegessen wird alleine.

Quellen

  • 1
    Engelmann, J. M., & Herrmann, E. (2016). Chimpanzees Trust Their Friends. Current Biology, 26(2), 252–256. https://doi.org/10.1016/j.cub.2015.11.037
  • 2
    Musick, K., & Meier, A. (2012). ASSESSING CAUSALITY AND PERSISTENCE IN ASSOCIATIONS BETWEEN FAMILY DINNERS AND ADOLESCENT WELL-BEING. Journal of marriage and the family, 74(3), 476–493.
  • 3
    Neumark-Sztainer, D., Wall, M., Story, M., & Fulkerson, J. A. (2004). Are family meal patterns associated with disordered eating behaviors among adolescents? Journal of Adolescent Health, 35(5), 350–359. https://doi.org/10.1016/j.jadohealth.2004.01.004
  • 4
    Snow, C. E., & Beals, D. E. (2006). Mealtime talk that supports literacy development. New Directions for Child and Adolescent Development, 2006(111), 51–66. https://doi.org/10.1002/cd.155
  • 5
    Jagtiani, M. R., Kelly, Y., Fancourt, D., Shelton, N., & Scholes, S. (2019). #StateOfMind: Family Meal Frequency Moderates the Association Between Time on Social Networking Sites and Well-Being Among U.K. Young Adults. Cyberpsychology, Behavior, and Social Networking, 22(12), 753–760. https://doi.org/10.1089/cyber.2019.0338
  • 6
    Luhmann, N. (2009). Vertrauen: Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität (Nachdr. d. 4. Aufl). Lucius & Lucius.
  • 7
    Barone, F. (2020, Dezember 29). Craving comfort: Bonding with food across cultures. Human Relations Area Files – Cultural Information for Education and Research. https://hraf.yale.edu/craving-comfort-bonding-with-food-across-cultures/
  • 8
    affiliative Reaktionen, Verhaltensweisen, die den Wunsch nach Kontaktaufnahme signalisieren (spektrum.de)
  • 9
    aan het Rot, M., Moskowitz, D. S., Hsu, Z. Y., & Young, S. N. (2015). Eating a meal is associated with elevations in agreeableness and reductions in dominance and submissiveness. Physiology & Behavior, 144, 103–109. https://doi.org/10.1016/j.physbeh.2015.03.014
  • 10
    Woolley, K., & Fishbach, A. (2017). A recipe for friendship: Similar food consumption promotes trust and cooperation. Journal of Consumer Psychology, 27(1), 1–10. https://doi.org/10.1016/j.jcps.2016.06.003
  • 11
    Harari, Y. N. (2018). Eine kurze Geschichte der Menschheit (J. Neubauer, Übers.; 1. Auflage, der Weltbestseller in limitierter Sonderausgabe). Penguin Verlag.
  • 12
    Voland, E. (2019). Die Natur der Solidarität. In Solidarität. Begriff und Problem. (S. 297–318). Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft.
  • 13
    Spitzer, M. (2014). Östliches und westliches Denken. Gibt es das? Warum? Und was folgt? Nervenheilkund (9), 639–647.
  • 14
    Talhelm, T., Zhang, X., Oishi, S., Shimin, C., Duan, D., Lan, X., & Kitayama, S. (2014). Large-Scale Psychological Differences Within China Explained by Rice Versus Wheat Agriculture. Science, 344(6184), 603–608. https://doi.org/10.1126/science.1246850

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert